Gute Noten für das klassische Lesen

Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.2015, Seite 62:

Eine Studie der University of Cambridge
Gute Noten für das klassische Lesen

An klassischer Bildung Interessierte mögen erfreut zur Kenntnis nehmen, was eine neue Studie der University of Cambridge glaubt nachweisen zu können: Fernsehen, Internet und Computerspiele machen nicht etwa schlau, sondern fördern die Verblödung. Denn jede zusätzliche Stunde vor den Geräten sorgt beim Secondary Education (GCSE), dem britischen Equivalent zum Hauptschulabschluss, für merklich schlechtere Noten. Dieses Resultat jedenfalls ergab die erwähnte Studie an 845 Schülerinnen und Schülern. Wer hingegen – mit Augenmass selbstverständlich – mehr Zeit investiert in Hausaufgaben oder klassisches Lesen, erbringt bessere Leistungen.

Sport als wertvoller Ausgleich

Wenn man der Cambridge-Studie glauben darf, dürfte damit das Klischee widerlegt sein, wonach man sich – so die wohlfeile Theorie – via TV-Konsum und Dokumentationen in Sachen Zeitgeschehen bilden kann. Auch das Internet scheint betreffend Wissenserwerb einen Spitzenplatz einzunehmen. Doch erstaunlicherweise zeigt die Praxis ein ganz anderes Bild. Denn beim GCSE schnitten die Schüler umso schlechter ab, je mehr Zeit sie vor den Bildschirmen verbrachten. Die Cambridge-Studie führt ein eindrückliches Exempel an: Wer mit 14,5 Jahren eine Stunde mehr moderne Medien konsumiert hat, erreichte mit 16 Jahren bei der Prüfung 9,3 Punkte weniger. Das entspricht zwei Notengraden in einem Fach oder je einem Notengrad in zwei Fächern.

Hingegen scheint ein gutes Buch wie ehedem positive Effekte auszulösen. Denn jene Schüler, die mehr Zeit mit Hausaufgaben oder auch mit Lesen verbracht haben, heimsten beim GCSE deutlich bessere Noten ein. Dies gilt auch für jene, die «nur» zum Vergnügen ein Buch konsumieren, ohne damit einen Lerneffekt anzustreben oder zu erwarten. Eine Stunde mehr Bücherlesen ergab laut Studie 23,1 Punkte bei der Prüfung. Diese Aktivitäten durften allerdings ein tägliches Maximum von vier Stunden nicht überschreiten. Die Cambridge-Forscher erklären dies damit, dass nur sehr schwache Schüler noch mehr Zeit in Hausaufgaben investieren müssen, ohne dass daraus ein zusätzlicher Lerneffekt resultiert.

Selbstverständlich lässt die Studie diverse und widersprüchliche Interpretationen zu. Naheliegend und unbestritten ist jene zu einem sinnvollen Ausgleich zum Lernen. Esther van Sluijs, Expertin für Verhaltensepidemiologie an der University of Cambridge, postuliert physische Betätigung, denn sie habe keine schädlichen Nebenwirkungen. «Wir gehen davon aus, dass Programme zur Reduktion von Bildschirmzeiten wichtige Vorteile für Prüfungsnoten von Teenagern haben könnten; ausserdem auch für ihre Gesundheit.» Im Gegensatz zum Herumsitzen vor dem Bildschirm oder PC zeitigen körperliche Aktivitäten keinen negativen Einfluss auf schulische Leistungen und Abschlussnoten; im Gegenteil. Mithin dürfte gesunder Sport eine sinnvolle Abwechslung und Ergänzung zum Lernen sein und ist zweifellos besser als passiver TV- und Internet-Konsum sowie Computerspiele.

Naheliegenderweise vermarkten die TV-Produzenten ihre Erzeugnisse als wertvoll, smart und intelligenzfördernd. Der Chef eines Schweizer Privatsenders behauptete kürzlich in einem Interview allen Ernstes, seine Eigenproduktionen («Bachelor», «Bauer, ledig, sucht») wirkten in diese Richtung und würden den IQ nach oben treiben. Selbstbewusst führt er als Kronzeuge das Buch «Everything Bad Is Good for You» und die dort erwähnte Langzeitbetrachtung an, gemäss welcher die Menschen immer intelligenter würden und durchschnittlich alle zehn Jahre einen IQ-Punkt zulegten. Als Erklärung für dieses erfreuliche Phänomen dient dem Autor Steven Johnson die zunehmend komplexer auftretende, höhere Ansprüche stellende Unterhaltung – sowohl im Fernsehen wie auch in Videogames und Romanen. Denn durch diese zum Mitdenken und zur geistigen Auseinandersetzung verführende «Architektur» würden die Menschen klüger, so Johnsons These.

Das Werk hat seit Erscheinen (2005) unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Für die einen handelt es sich um eine «elegante Polemik», andere bezweifeln den positiven Effekt anspruchsvoller werdender Drehbücher und Handlungen auf die geistige Volksgesundheit. Ob die – vor allem via moderne Medien verbreitete – Populärkultur der letzten 30 Jahre Gesellschaft und Individuum wirklich vorwärtsgebracht hat oder ob andere Gründe dafür verantwortlich sind, ist zweifellos diskussionswürdig.
Weg vom Holzschnitt

Wenn man jahrzehntealte Fernsehserien betrachtet, staunt man immerhin über die seinerzeit oft holzschnittartigen Charaktere. Deren oft groteske Schwarz-Weiss-Kontraste liessen keine subtilen Zwischentöne zu und wirkten unglaubwürdig. Die Vielzahl «moderner», oft zweideutiger Handlungsstränge wiederum zwingt zu vertiefter Auseinandersetzung mit Thema und Akteuren und wirkt allenfalls präventiv gegen die voreilige und emotionsgesteuerte Verteilung von Sympathien und Antipathien. Ohne sich profund mit der Causa zu befassen, kann man heute weder der Geschichte folgen noch in der Kollegenrunde mitdiskutieren. Wieweit aber Fernsehen, Internet und Videogames eine differenzierte Sicht erlauben und fördern, entzieht sich wissenschaftlichen Kriterien. Man kann höchstens hoffen, dass beispielsweise die «Bachelor»-Peinlichkeiten zum Überdenken des eigenen Balzverhaltens führen. Und da der Erfolg immer mehrere Väter hat, drängeln naturgemäss viele Akteure der Populärkultur ins Rampenlicht und klopfen sich auf die eigene Schulter.
Werner Knecht